Mario Tamponi Zurück
Nur der Arme weiß… dass nichts mehr wet ist als die Freiheit Widrigkeiten des Lebens verbrennen oft Vermögen und Funken der Hoffnung. Vieles geht verlorenauch durch Lust an Anarchie, durch Entwaffnung im sozialen Wettstreit, durch Ablehnung des Konsumdenkens mit seinen falschen Verlockungen und dem Kult des schönen Scheins. Aber Armut ist auch der verborgene Schatz, und wer ihn entdeckt, kann auf Zehenspitzen eintreten in das Reich dessen, was zählt. Ist reicher, wer als Geizhals Villen, Aktien und Staatspapiere anhäuft, oder wer über die Weite der Welt gleitet und sie von einem Ende zum anderen durchquert, Standpunkt und Perspektive nach Belieben wechselt, ohne Notwendigkeit von Safes und Versicherungen, ohne Angst vor Dieben und Mördern? Wer kann dem Armen den Brombeerduft im Archaischen der Landschaft nehmen, die Gesellschaft von gewundenen Eichen, das Funkeln über dem Meeresspiegel und die Brise, die ihn liebkost und einhüllt in den Odem der Welt? Wer kann ihm die Zypressen nehmen und die Tannen, die den Tag in Lichtkonfetti filtern und den Wind in vertrauliches Flüstern verwandeln… und die verschneiten Gipfel, die den Himmel durchbrechen, um über die Lebenden zu wachen… und die Freundschaft der Tiere, die Täler und Höhlen in der Stille der Erde bevölkern? Wer kann ihm die Sterne nehmen, die sich in der Nacht verflochten von Raum und Zeit verdichten… die Kräfte, die Galaxien und unser Morgen bewegen… und den Mikrokosmos, in dem Greifbares und Traumbilder versinken? Wer kann ihm die geheime Harmonie von Worten und Dichtung nehmen, die Masken der Psyche, die Geometrie der Musik, die Entdeckungen der Mathematik und die Visionen der Wissenschaft, nicht die des bloß kommerziellen Gebrauchs, sondern der Neugier auf den Spuren versteckter Codes? Mit dem Kauf oder Raub von Kunstwerken eignen wir uns nicht ihre Schönheit an; gerade die Gier ist es, die Staunen und Weisheit verkümmert. Nur der Arme weiß, dass das Ganze wichtiger ist als das Einzelne, die Kontemplation als der Besitz, der Dialog als die Überheblichkeit, das geteilte Leid als die Wut, die Bescheidenheit als die Selbstrechtfertigung, die Verstand und Gefühle verdreht und Konflikte gebiert. Der Arme weiß, dass die Verbrüderung mit dem, der weniger hat oder unterdrückt wird, den Lauf der Welt korrigiert und die Geschichte erhellt. Der Arme kennt den Trost der Vergebung anderer und seiner selbst, den Frieden der christlichen Erlösung. Arm ist nicht der Sammler von Überflüssigem, auch nicht der Geizige von Vielem oder Wenigem noch der Gierige nach künftiger Sattheit. Arm bedeutet nicht, mittellos, träge oder resigniert zu sein, materielle Güter als Selbstbefriedigungskult zu missachten… Armut ist nicht in Zahlen zu fassen, Armut ist Geist und Seele. Arm ist, wer nicht davon abhängt, was er besitzt oder wonach er strebt, es zu besitzen, sondern wer beides in den Dienst der eigenen Freiheit und der der anderen stellt. Arm ist, wer Leben auf Sein baut, nicht auf Haben. „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist (und wird sein) das Himmelreich!“ Die Armut im Geiste ist keine Erfindung der Bequemlichkeit, sie ist radikales Engagement ohne Hintertüren und moralische Alibis. Der Arme bewohnt keine prunkvollen Kunstinseln für Schmeichler und Erben, er bewohnt keine Festungen, abgetrennt durch Gräben und Kanonen, bedrohlich mit ihren Verliesen, Gittern und Folterkammern. Das Haus des Armen ist durchsichtig und offen: Es spürt die Wärme der angrenzenden Welt und die Nöte aus der Ferne. Der Arme begrüßt jeden Tag das neugeborene Leben, in treuer Anwesenheit von Sonne und Mond, im Chor der aus tiefem Grün zirpenden Zikaden; das Leben erlebt er nicht als gebotenes Geschenk, sondern mit immer neuem Dank, mit der Erregung eines jeden Atemzugs, der sich ausbreitet. Wer kann dem Armen beim Tod den guten Ausgang nehmen, der die Trugbilder von Arroganz und Schein auflöst und die Gerechtigkeit, die metaphysische Gleichheit unter den Menschen wiederherstellt? Pathetisch ist der Versuch dessen, der dem Übergang entkommen möchte, indem er sich durch Zeremonien erster Klasse und prunkvolle Gräber schmückt! Für die Jünger des Habens ist die Nacktheit des Todes gespenstisch. Für den Armen ist er die schmale Pforte zur unendlichen Freiheit, die berauscht, ohne zu sättigen – im Leben und danach. Er ist die Apokalypse, die jenseits des Vergänglichen uns fortreißt vor das Angesicht des Allerhöchsten. Selig sind die Armen, denn sie gehen nicht wider Willen! Mario Tamponi